Ein Mann, der in seiner dreißigjährigen Erfahrung als Verbrecher über 100 Banken ausgeraubt hat, von den Opfern als freundlicher und rücksichtsvoller Mensch beschrieben wird und mehrfach aus dem Gefängnis ausgebrochen ist. Wenn seine Geschichte nicht als Steilvorlage für einen Roman dient, welche dann?
Die historische Person
Noch heute kennen viele Amerikaner William „The Actor“ Sutton. Der in Brooklyn geborene und in einfachen Verhältnissen aufgewachsene Mann, raubte seit den späten 20er Jahren Banken und Juweliergeschäfte aus. Dabei verkleidete er sich immer umfangreicher und trat häufig als Polizist oder Briefträger auf. Kurz vor Eröffnung der Geschäfte und Banken kam er mit Hilfe seiner Kostüme und unter Verwendung entsprechender Ausreden in die Filialen hinein. Er fesselte die ankommenden Mitarbeiter nacheinander und wartete auf denjenigen, der den Tresor öffnen konnte. Er arbeitete mit unterschiedlichen Komplizen und ging immer sehr strukturiert vor. Eine Waffe hatte er zwar immer dabei, benutze sie aber nie. Darüber, ob sie eventuell gar nicht geladen gewesen sei, gibt es widersprüchliche Angaben. Bei seinen diversen Ausbrüchen war er ebenfalls sehr kreativ, aber auch ein wenig abgebrühter als bei den Raubüberfällen.
Trotz diverser Delikte und Fluchtversuche wurde William Sutton 1969 begnadigt. Er verlebte die letzten Lebensjahre in Florida, wo er Bücher schrieb, Banken half ihre Sicherheitssysteme zu verbessern und für Kreditkarten mit Foto warb.
Er verstarb 1980 im Alter von 79 Jahren.
Das Buch
J.R. Moehringer hat sich mit William Sutton eine real existierende Person ausgesucht, deren Persönlichkeit auf den ersten Blick glasklar erscheint. Dazu passend entwirft er eine Geschichte, die sich an den Fakten orientiert und zunächst sehr stringent wirkt. Ausgangspunkt sind die Begnadigung Suttons und ein Interview, das er direkt nach seiner Entlassung gegeben hat. Einen ganzen Tag fuhr er mit einem Reporter und einem Fotografen durch New York und besuchte Orte, die in seinem Leben wichtig waren. Der daraus entstandene Artikel enttäuschte jedoch. Neben Unwahrheiten und sonderbaren Anekdoten enthielt er keine neuen Informationen. Moehringer erzählt diese Geschichte praktisch nach. Dabei wechseln sich zwei Erzählstränge ab. Zunächst geht es um die Fahrt durch New York und die Fragen, die an Willie gestellt werden. Der zweite Erzählstrang setzt sich aus Erinnerungen zusammen. Dadurch wird dem Räuber sehr viel Raum zum Sprechen gegeben und nur an wenigen Stellen, die sich meist in dem ersten Erzählstrang befinden, wird auf eine teilweise unbedarfte Art und Weise auf die Folgen seiner Taten hingewiesen. Paradoxerweise zeigt sich aber darin eine Stärke des Romans. Die Fakten dienten wirklich nur als Vorlage für den Roman. Moehringer erschafft eine literarische Figur, die sich öffnet, Verletzlichkeit zeigt und sich von dem öffentlichen Bild abhebt. Das ist Sutton in so einer Form nie gelungen und es ist auchfraglich, ob er das überhaupt gewollt hätte. Allerdings habe ich mir oft die Frage gestellt, inwieweit das daraus entstehende Interesse an der Handlung eingeschränkt ist, wenn man vorher schon etwas über William Sutton weiß. Ich konnte ganz unvoreingenommen herangehen und habe mich nie gefragt, was jetzt ausgedacht ist oder der Wahrheit entspricht. Das hat eine gewisse Spannung und Lesefreude erzeugt. Diese wurde nur dadurch getrübt, dass mir eine gewisse psychologische Tiefe fehlte. Ab und an wäre eine schärfere Analytik geeignet gewesen. Wenn man jedoch das ganze Werk gelesen hat, wendet sich das Blatt ein wenig. Dies gilt übrigens für verschiedene Punkte. Erst wenn man das gesamte Buch gelesen hat, ergibt sich ein sehr viel differenzierteres Bild. Gerade auf den letzten Seiten gibt es noch einige Wendungen, die viele Dinge schlussendlich in einem anderen Licht dastehen lassen.
Durchweg hervorragend werden die sprachlichen Mittel genutzt. Moehringer hat aus meiner Sicht eine literarische Perle geschaffen, die sich nicht in Sphären aufhält, die man nur mit einem Fremdwörterbuch erreichen kann. Gleichzeitig findet man diesen Schatz aber auch nicht auf dem Grund, der nur so vor Alltagssprache trieft und den Geist verklebt. Nein, er schreibt anspruchsvoll verständlich und in einem tollen Rhythmus. Dabei ist die Satzlänge hervorragend. Und das sage ich jetzt nicht aus Sicht eines Fontane-Liebhabers. Die Gedanken gehen nicht verloren, man kommt sich aber auchnicht veralbert vor, weil die Sätze zu kurz sind. Sie sind einfach genau passend. Es ist fasst so, als ob sich die Sprache an den Protagonisten angepasst hat. Daher fragt man sich unweigerlich was zuerst da war, die Figur oder ihre Sprache...
Fazit: Ein wundervolles Buch, das eine spannende Lebensgeschichte erzählt. Während des Lesens ist die Geschichte allerdings wie ein sich entwickelnder Schmetterling. Die Raupe läuft dahin und der Leser fliegt nur so über die Seiten. Dann wird es ein wenig düster und eng, man möchte sich in einen Kokon einwickeln. Erst wenn man das Buch schließt, fliegt der Schmetterling davon.
Roman
Hardcover
Preis € (D) 19,99 | € (A) 20,60 | SFR 28,90
ISBN: 978-3-10-049603-4