Donnerstag, 14. Juni 2012

Marie-Sabine Roger, Der Poet der kleinen Dinge

- Ich habe nicht gemerkt, wie die achtzehn Jahre zwischen meiner Grundschulzeit und heute Abend vorbeigerauscht sind. Sie kommen mir vor wie eine einzige graue Suppe, mit zwei, drei Petersilienstängeln obendrauf. Es muss sich dringend etwas ändern. -

Wenn man Gérard sieht, bekommt man zunächst einen Schock und ist vielleicht ein wenig verstört. Doch gleichzeitig kann man sich nicht abwenden, weil der Blick des kleinen Mannes, der durch eine Vielzahl von körperlichen Beeinträchtigungen gezeichnet ist, direkt in die Seele vordringt und einen ergreift. Das erkennt Alex, die als Untermieterin bei Gérards Bruder und dessen Frau lebt, nach wenigen Begegnungen. Seine eigene Familie steht ihm jedoch ganz anders gegenüber. Bertrand ist das Leben mit seinem Bruder gewohnt und hat ihn nach dem Tod der gemeinsamen Mutter bei sich aufgenommen. Seine Frau Marlène sieht den Schwager hingegen als reinen Störenfried, der nichts richtig machen kann und ihr Leben aus dem Gleichgewicht bringt. Sie möchte ihn am liebsten irgendwo an einem Straßenrand aussetzen. Da ihn niemand in dem kleinen verschlafenen Dorf Mitten in der Normandie kennt, sollte ihn auch niemand vermissen. Doch dann freundet sich Alex immer stärker mit Gérard an und versucht diesen herzlosen Plan zu durchkreuzen. Obwohl sie eigentlich nie lange an einem Ort lebt und sich nicht an Menschen binden möchte, erweckt er in ihr etwas, das sie nicht abstellen kann. Die Lebensfreude, die er trotz seiner Behinderungen hat, steckt sie an und bringt sie zum Nachdenken. Wenn er zum Beispiel Gedichte in seiner eigenen nuscheligen Sprache rezitiert oder schräg Chansons von sich gibt, kann sie nicht anders als mit ihm zu lachen und das Leben zu genießen. Und er sollte sein Leben noch viel mehr genießen können. Er sollte raus in die Welt und diese entdecken. Dafür baut Alex eine alte kleine Karre um und polstert sie so aus, dass Gérard bequem darin Platz nehmen kann. Gemeinsam unternehmen sie Spaziergänge am Kanal und lernen nach und nach Cédric und Olivier kennen, die dort ihre Zeit vertrödeln.
Als Gemeinschaft erleben sie wunderliche Abenteuer, die ein ganz anderes Leben für sie bereithalten.

Schon in "Das Labyrinth der Wörter" erzählte Roger die Geschichte eines Sonderlings, der für die durchschnittlichen Menschen ein Dummkopf war. Tatsächlich war er es aber, der erkannte worin die Schönheit des Lebens besteht. Er war im Endeffekt derjenige, der das Glück gefunden hatte, während die andern stets und ständig danach suchten, aber nie erkannten wie es eigentlich aussah oder worin man es finden konnte.
Auch in "Der Poet der kleinen Dinge" geht es um einen jungen Mann, der nicht in der Mitte der Durchschnittsgesellschaft lebt. Er kann sich durch seine Behinderungen nur sehr wenig bewegen und seine Aussprache ist schwer verständlich. Aber trotzdem findet er die kleinen Dinge des Lebens, die Glück und Zufriedenheit bedeuten. Wenn er sie den anderen Menschen vor die Nase hält, schauen sie jedoch nie genau hin. Was sollte ein Dummkopf wie er schon vom Leben wissen?
Im Labyrinth erzählte die Autorin die Geschichte teilweise aus der Sicht des Außenseiters. Hier kommt er nicht selbst zu Wort. Dafür erzählen Alex und Cédric auf zwei unterschiedlichen Zeitebenen von ihrem Leben, ihren Begegnungen und ihrer Sicht auf Gérard.

Die sehr leichte Sprache, welche ganz sanft durch Lebensweisheiten und philosophische Gedanken verschönert wird, ermöglicht es dem Leser der Geschichte gewissenhaft zu folgen. Egal wie trostlos die Umgebung beschrieben wird, man fühlt sich wie in Seide gebettet und schwebt leicht neben der Handlung dahin. Wie eine Fee, die in den schönsten Farben leuchtet bewegt man sich durch die Landschaft der Normandie und freut sich über die gemeinsamen Erlebnisse der Freunde und wünscht ihnen eine erfüllte Zukunft. 
Und obwohl die Handlung keine spektakulären Höhepunkte bietet, möchte man doch wissen wie es weitergeht. Man möchte zusammen mit den Protagonisten die glücklichen Momente spüren, die sie gemeinsam erleben.

Fazit: Ein wundervolles, ganz unspektakuläres Buch, dass so viel Freude und Glück weitergibt, das man es nie mehr hergeben und immer wieder lesen will.

 
ISBN: 978-3-455-40095-3
Originalsprache: Französisch
Originaltitel: Vivement l'avenir
Seiten: 240, gebunden


18,99 EUR (D)
19,50 EUR (A)
28,90 SFR (CH)

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