Sonntag, 22. April 2012

Sven-André Dreyer, Die Luft anhalten bis zum Meer

Ich sage es ganz ohne Ausflüchte: Kurzgeschichten oder kurze Erzählungen waren für mich bisher der dreckige Pöbel der literarischen Gesellschaft. Das lag aber nicht an den Ideen, die die Autoren im Hinterkopf hatten, sondern an der Form, wie sie erzählt wurden. Anscheinend schaffen es nur wenige Vertreter der Zunft meine Bedürfnisse zu treffen, wenn es um das Erzählen in einer sehr verdichteten Art und Weise geht. Aber was erwarte ich eigentlich? Ich möchte nach wenigen gelesenen Seiten nicht in einem Raum zurückgelassen werden, dessen Mobiliar aus Fragezeichen besteht. Auf der anderen Seite sollen die Charaktere und Szenerien aber auch nicht so ausführlich beschrieben werden, dass gar kein Platz für die eigentliche Handlung bleibt. Diesen Spagat schafft man nur, wenn man sprachlich präzise und pointiert schreibt und wenn man seine Idee mit wenigen, aber sehr berührenden Details an den Leser heranträgt. Die Schwierigkeit lag nun bisher darin solch ein gutes Werk zu finden. Betonen muss ich hier eindeutig BISHER!

Sven-André Dreyer hat mich davon überzeugt, dass meine Ansprüche nicht ganz aus der Luft gegriffen waren. Es ist sogar möglich, sie zu übertreffen. In seinem Buch "Die Luft anhalten bis zum Meer" erzählt er in neun kurzen Geschichten von traurigen und teilweise abschreckenden Begebenheiten des täglichen Lebens, die meist mit Gewalt oder Krankheit zusammenhängen. Sonderbarer Weise ist es schön etwas über diese traurigen Ereignisse zu lesen. Der Leser kommt sich dabei wie ein ungewollter Voyeur vor, der doch gar nicht so etwas schreckliches beobachten wollte, aber nicht anders konnte. Vielleicht kann man es am besten mit einem Unfall vergleichen, an dem man vorüberfährt. Man schaut hin, versucht Details zu erkennen und wenn es ganz schlimm aussah, recherchiert man zu Hause nach den Umständen. In Dreyers Erzählungen wird ebenso das Leben der Protagonisten verfolgt und teilweise regelrecht seziert.
Und erst am Ende löst der Autor den Gedankenknoten, in dem er die Ursache für den Schmerz der Personen enttarnt. Meist schafft er es damit sogar noch, einen Schockmoment zu erzeugen.
Dass das Lesen trotz der Traurigkeit Spaß macht und sehr berührt, liegt an der melancholisch schönen Sprache des Autors, die mit wenigen Worten ganze Gedankengebäude erschafft und Spannung erzeugt. Wenn Fontane und vielleicht Tellkamp die Meister der Bandwurmsätze sind, obwohl ich den ersteren ehrlich gesagt sehr gerne lese, ist Dreyer ein Virtuose der Drei-Wort-Sätze. Ich hätte nie gedacht, dass man es schafft, mit so kurzen Sätzen und auf so wenigen Seiten, ein ganzes Leben zu erzählen.
Zudem springt er in den verschiedenen Zeitebenen hin und her. Das erscheint dem Leser zunächst recht wahllos. Doch schnell wird klar, dass sich dahinter ein Plan verbirgt. Denn schließlich läuft unser Leben nicht immer so linear, wie wir es gerne hätten. Nein, wir erinnern uns und haben Empfindungen, die nicht einfach ausgelöscht werden können.

Als wäre das nicht schon Kunst genug, legt der Autor noch nach. Alle Erzählungen beinhalten die Aspekte Atem und Meer. Das gemeinsame Atmen, das Anhalten der Luft oder ein aufgeregtes Staccato werden in die Handlungen eingebettet und stehen fast ungewollt, ganz leise und klein in einer Art sekundären Mittelpunkt. Und das Meer ist an sich schon so mit Bildern behaftet, dass man hier gar nicht auf seine Bedeutung für Sehnsucht, Abschied und Erneuerung eingehen muss.

Fazit: Ein berührendes, aufrüttelndes und sehr nachhaltiges kleines Buch, über dessen Handlungen ich gar nicht so viel erzählen möchte, weil man es lesen muss!

Chapeau Herr Dreyer!


Erzählungen
ISBN: 978-3-86286-015-9
100 Seiten
Broschiert
9,90€ (D)     
Gerade erschienen!
 

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