Sonntag, 4. März 2012

Andrew Lane, Young Sherlock Holmes. Der Tode liegt in der Luft


- Aber er konnte nicht erkennen, wie die einzelnen Glieder der Kette zusammenhingen. Die Antworten darauf lagen vielleicht nur ein paar Meter entfernt hinter dieser Mauer, aber wie die Dinge im Moment lagen, hätten sie genauso gut in China auf ihn warten können. -

Wer sich auch nur ansatzweise für Kriminalgeschichten interessiert, kann gar nicht an Sherlock Holmes vorbeikommen. Irgendwann muss man den gefühlten Urvater aller Kriminalisten einfach näher kennen lernen und zu den Werken von Sir Arthur Conan Doyle greifen. In den 56 Kurz-geschichten und vier Romanen lernt man daraufhin das wunderbare analytische Denken des Detektivs kennen und taucht spielend leicht in die Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein. Doch selbst weniger bibliophile Menschen kommen in den letzten Jahren nicht an dieser Figur vorbei. Neben Kinofilmen gibt es eine erstklassige Serienproduktion der BBC, die rundum gelobt wurde. Zudem taucht der Charakter des Detektivs immer wieder in anderen Produktionen auf. Weiterhin gibt es viele Gesellschaften, die sich um ein Andenken bemühen und dafür sorgen, dass die Figur über Generationen hinweg im Gedächtnis bleibt.
Auch auf dem literarischen Feld schläft man nicht. Im Dezember 2011 erschien ein Fortsetzungsroman ("Das Geheimnis des weißen Bandes"), der eine Rarität darstellt. Anthony Horowitz erhielt als erster Autor von den Doyleschen Nachlassverwaltern Zugang zu wichtigen Aufzeichnungen und sie vergaben für sein Werk ein Gütesiegel, welches ihn als legitimen Nachfolger von Sir Arthur Conan Doyle ausweist.

Andrew Lane geht mit seiner Serie "Young Sherlock Holmes" in eine ganz andere Richtung. Natürlich ist auch der Meisterdetektiv nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Er muss eine Vergangenheit und damit eine Kindheit haben. In den vorhandenen Romanen gab es darüber immer wieder Hinweise, die sich aber teilweise auch widersprochen haben. Diese literarische Lücke wird nun von dem Autor sehr detailliert geschlossen. 

Der pubertierende Spross der wohlhabenden Holmes-Familie kann die Sommerferien leider nicht zuhause verbringen. Sein Vater befindet sich noch Indien, seine Mutter ist nervlich sehr angeschlagen und sein Bruder ist beruflich stark eingespannt. Daher bleibt dem Jungen nichts anderes übrig als sich nach Farnham, zu Tante Anna und Onkel Sherrinford zu begeben. Er kennt die beiden nicht und sie scheinen sich auch mit Sherlocks Eltern nicht gut zu verstehen. Zudem warnt ihn sein Bruder sehr eindringlich vor der Haushälterin, die wohl kein Freund der Familie sein soll. Was sollen das nur für Ferien werden? Überall unfreundliche Menschen und keine Freunde. Na gut, die hatte Sherlock jetzt auch nicht unbedingt in der Schule, aber ein paar gleichaltrige Burschen wären schon ganz nett.
Es hält den neugierigen Jungen natürlich trotzdem nicht lange in dem Haus der Familie. Er erkundet die Umgebung und versucht sich auf den umliegenden Feldern und im Wald die Zeit zu vertreiben. Widererwartend trifft er dort auf einen interessanten gleichaltrigen Jungen, der ihm die nahe gelegene Stadt zeigt und Sherlock mit den Gepflogenheiten bekannt macht. Als sich beide schon die folgenden gemeinsamen Tage voller Freude ausmalen, kommt alles ganz anders. Sherlock bekommt einen kauzigen Privatlehrer, eine mysteriöse Krankheit geht in der Region um und auf Holmes Manor wird ein Toter gefunden. Sherlock ist ohne es zu ahnen mitten in seinem ersten Fall, den er nur mit seiner analytischen Fähigkeit und einer großen Portion Mut lösen kann.

Ich muss es vorwegnehmen: Aus meiner Sicht hat Andrew Lane einen wundervollen Jugendroman geschaffen, der die jungen Jahre des Meisterdetektivs fantastisch aufbereitet.
Natürlich ist es schwer oder vielleicht sogar nahezu unmöglich einen Roman zu schaffen, der sich ohne Knirschen in die diversen Geschichten von Conan Doyle einfügt. Ich denke aber, dass Lane gar nicht diesen Anspruch hatte. Er wollte eher eine Detektivgeschichte im alten Stil erzählen, die zwar Sherlock Holmes als Hauptfigur in sich trägt, aber unabhängig von den späteren Ereignissen gesehen werden kann. Damit hat er ein sehr ambivalentes Werk geschaffen, das es auf der einen Seite schafft, junge Leser für den Kosmos Holmes zu gewinnen und auf der anderen Seite mit gutem Gewissen von Holmes- und Krimifans gelesen werden kann.
Verantwortlich für den Lesegenuss ist eine schöne Sprache, die ohne Schnörkel auskommt und trotzdem in die Handlungszeit passt und sich in die Welt von Sherlock Holmes einbettet. 
Zudem ist aus meiner Sicht die Entwicklung der Figuren sehr gut gelungen. Sherlock hat schon seine analytische Denkweise entwickelt,  die sich allerdings noch in den Kinderschuhen befindet und durch stetige Anregung und Nutzung geformt werden muss. Andrew Lane arbeitet diese mentale Veränderung sehr detailliert heraus und sorgt damit für Freude bei dem Leser, weil man den Eindruck gewinnt hautnah dabei sein zu können, wenn sich dieses Hauptmerkmal des Detektivs heraus-kristallisiert. Weiterhin klingen immer wieder Charaktereigenschaften an, die man mit Sherlock Holmes verbindet. Diese tauchen aber nur nebenbei auf und werden bei den Kennern ein Schmunzeln verursachen. Für alle anderen gehören sie zu den gelungenen und sehr bildlichen Personen-beschreibungen.
Letztendlich ist außerdem der Plot so rasant, wie man es von einer Holmes-Geschichte erwartet. Mehrfach glaubt man, dass der Nachwuchsdetektiv am Ende sei. Doch dann wendet sich völlig nachvollziehbar das Blatt und die Figuren haben neue Plätze eingenommen.

Fazit: Natürlich vergleicht man den jungen Holmes immer mit seinem erwachsenen Pendant und mit den verschiedenen Schauspielern, die in seine Rolle schlüpfen konnten. Doch wenn man sich einmal davon frei machen kann, liest man einen tollen Jugendroman, der spannend gestaltet ist, zum Mitdenken anregt und eine sprachliche Freude ist.


Taschenbuch
Preis € (D) 8,99 | € (A) 9,30 | SFR 13,50
ISBN: 978-3-596-19300-4


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