- Aber er konnte nicht erkennen,
wie die einzelnen Glieder der Kette zusammenhingen. Die Antworten darauf lagen
vielleicht nur ein paar Meter entfernt hinter dieser Mauer, aber wie die Dinge
im Moment lagen, hätten sie genauso gut in China auf ihn warten können. -
Wer sich auch nur ansatzweise für Kriminalgeschichten interessiert, kann
gar nicht an Sherlock
Holmes
vorbeikommen. Irgendwann muss man den gefühlten Urvater aller Kriminalisten
einfach näher kennen lernen und zu den Werken von Sir Arthur Conan Doyle
greifen. In den 56 Kurz-geschichten und vier Romanen lernt man daraufhin das
wunderbare analytische Denken des Detektivs kennen und taucht spielend leicht
in die Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein. Doch selbst weniger bibliophile
Menschen kommen in den letzten Jahren nicht an dieser Figur vorbei. Neben
Kinofilmen gibt es eine erstklassige Serienproduktion der BBC, die rundum
gelobt wurde. Zudem taucht der Charakter des Detektivs immer wieder in anderen
Produktionen auf. Weiterhin gibt es viele Gesellschaften, die sich um ein
Andenken bemühen und dafür sorgen, dass die Figur über Generationen hinweg im
Gedächtnis bleibt.
Auch auf dem literarischen Feld schläft man nicht. Im Dezember 2011
erschien ein Fortsetzungsroman
("Das Geheimnis des weißen Bandes"), der eine Rarität darstellt. Anthony
Horowitz
erhielt als erster Autor von den Doyleschen Nachlassverwaltern Zugang zu
wichtigen Aufzeichnungen und sie vergaben für sein Werk ein Gütesiegel, welches
ihn als legitimen Nachfolger von Sir Arthur Conan Doyle ausweist.
Andrew
Lane
geht mit seiner Serie "Young Sherlock Holmes"
in eine ganz andere Richtung. Natürlich ist auch der Meisterdetektiv nicht aus
dem Nichts aufgetaucht. Er muss eine Vergangenheit und damit eine Kindheit
haben. In den vorhandenen Romanen gab es darüber immer wieder Hinweise, die
sich aber teilweise auch widersprochen haben. Diese literarische Lücke wird nun
von dem Autor sehr detailliert
geschlossen.
Der pubertierende
Spross der wohlhabenden Holmes-Familie kann die Sommerferien
leider nicht zuhause
verbringen. Sein Vater befindet sich noch Indien, seine Mutter ist nervlich
sehr angeschlagen und sein Bruder ist beruflich stark eingespannt. Daher bleibt
dem Jungen nichts anderes übrig als sich nach Farnham, zu Tante Anna und Onkel Sherrinford
zu begeben. Er kennt die beiden nicht und sie scheinen sich auch mit Sherlocks
Eltern nicht gut zu verstehen. Zudem warnt ihn sein Bruder sehr eindringlich
vor der Haushälterin, die wohl kein Freund der Familie sein soll. Was sollen
das nur für Ferien werden? Überall unfreundliche Menschen und keine Freunde. Na
gut, die hatte Sherlock
jetzt auch nicht unbedingt in der Schule, aber ein paar gleichaltrige Burschen
wären schon ganz nett.
Es hält den neugierigen Jungen natürlich trotzdem nicht lange in dem Haus der
Familie. Er erkundet die Umgebung und versucht sich auf den umliegenden Feldern
und im Wald die Zeit zu vertreiben. Widererwartend trifft er dort auf einen
interessanten gleichaltrigen Jungen, der ihm die nahe gelegene Stadt zeigt und Sherlock
mit den Gepflogenheiten bekannt macht. Als sich beide schon die folgenden
gemeinsamen Tage voller Freude ausmalen, kommt alles ganz anders. Sherlock
bekommt einen kauzigen Privatlehrer, eine mysteriöse Krankheit geht in der
Region um und auf Holmes Manor wird ein Toter gefunden. Sherlock
ist ohne es zu ahnen mitten in seinem ersten Fall, den er nur mit seiner
analytischen Fähigkeit und einer großen Portion Mut lösen kann.
Ich muss es vorwegnehmen: Aus meiner Sicht hat Andrew
Lane
einen wundervollen Jugendroman geschaffen, der die jungen Jahre des
Meisterdetektivs fantastisch aufbereitet.
Natürlich ist es schwer oder vielleicht sogar nahezu unmöglich einen Roman
zu schaffen, der sich ohne Knirschen in die diversen Geschichten von Conan Doyle
einfügt. Ich denke aber, dass Lane gar nicht diesen Anspruch hatte.
Er wollte eher eine Detektivgeschichte im alten Stil erzählen, die zwar Sherlock
Holmes
als Hauptfigur in sich trägt, aber unabhängig von den späteren Ereignissen
gesehen werden kann. Damit hat er ein sehr ambivalentes Werk geschaffen, das es
auf der einen Seite schafft, junge Leser für den Kosmos Holmes
zu gewinnen und auf der anderen Seite mit gutem Gewissen von Holmes-
und Krimifans gelesen werden kann.
Verantwortlich für den Lesegenuss ist eine schöne Sprache, die ohne
Schnörkel auskommt und trotzdem in die Handlungszeit passt und sich in die
Welt von Sherlock
Holmes
einbettet.
Zudem ist aus meiner Sicht die Entwicklung der Figuren sehr gut gelungen. Sherlock
hat schon seine analytische Denkweise entwickelt, die sich allerdings
noch in den Kinderschuhen befindet und durch stetige Anregung und Nutzung
geformt werden muss. Andrew Lane arbeitet diese mentale Veränderung
sehr detailliert heraus und sorgt damit für Freude bei dem Leser, weil man den
Eindruck gewinnt hautnah dabei sein zu können, wenn sich dieses Hauptmerkmal
des Detektivs heraus-kristallisiert. Weiterhin klingen immer wieder
Charaktereigenschaften an, die man mit Sherlock Holmes
verbindet. Diese tauchen aber nur nebenbei auf und werden bei den Kennern ein
Schmunzeln verursachen. Für alle anderen gehören sie zu den gelungenen und sehr
bildlichen Personen-beschreibungen.
Letztendlich ist außerdem der Plot so rasant, wie man es von einer Holmes-Geschichte
erwartet. Mehrfach glaubt man, dass der Nachwuchsdetektiv am Ende sei. Doch
dann wendet sich völlig nachvollziehbar das Blatt und die Figuren haben neue
Plätze eingenommen.
Fazit: Natürlich vergleicht man den jungen Holmes
immer mit seinem erwachsenen Pendant und mit den verschiedenen Schauspielern,
die in seine Rolle schlüpfen konnten. Doch wenn man sich einmal davon frei machen
kann, liest man einen tollen Jugendroman, der spannend gestaltet ist, zum
Mitdenken anregt und eine sprachliche Freude ist.
Taschenbuch
Preis € (D) 8,99 | € (A) 9,30 | SFR 13,50
ISBN: 978-3-596-19300-4
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