Sonntag, 13. Januar 2013

Elk von Lyck, Die Auswerterin

Inhalt 
Selbst wenn man sich „nur“ in der Schule mit dem Thema Nationalsozialismus beschäftigt hat und anschließend eventuell noch ein wenig selbständig weiterdenkt, gelangt man irgendwann zu der Frage, ob die Alliierten von den Konzentrationslagern gewusst haben. Teilweise wird dieses Thema heutzutage auch schon direkt angesprochen. Viele umschiffen allerdings diese Klippe, weil sie mit ja beantwortet werden muss und unweigerlich die Frage darauf folgt, warum sie dann nicht eingegriffen haben. 

Diese Frage hat auch den Autor Elk von Lyck beschäftigt und er thematisiert diese nun in seinem Buch "Die Auswerterin".
Ähnlich wie Hochhuth in seinem Stellvertreter lässt er eine Hauptfigur Fragen stellen, die aus ihrem Innersten herauskommen und mit den oben genannten Gedanken korrespondieren. Wie Riccardo Fontana bei Hochhuth, kann auch Lycks Protagonistin Emily Brown die Augen nicht länger verschließen und entscheidet sich daher zu handeln. 

Als Auswerterin von Luftbildern hat sie viel Leid gesehen, dass aus ihrer Sicht häufig Unrecht darstellt. Eines Tages entdeckt sie auf einigen Bildern einen größeren Gebäudekomplex, der als Auschwitz identifiziert wird. Das Gesicht eines Jungen, der das Aufklärungsflugzeug wohl für einen Retter hielt, lässt sie nicht mehr los und regt sie zu weiteren Nachforschungen an. Die Erkenntnis, dass in dem Lager Menschen in hoher Zahl umgebracht werden schockiert sie. Natürlich leitete sie diese Information, die sie für eine Neuigkeit hält, an ihren Vorgesetzen weiter. Kurze Zeit später stellt sie aber fest, dass von der britischen Seite nichts gegen die Vernichtung unternommen wird. Daher sieht sie nur noch einen Ausweg: Arthur Harris, der Chef des britischen Bomberkommandos, muss den Befehl zur Zerstörung des Lagers oder zumindest der Zufahrtswege geben. Dies kann sie, die eigentlich jede Form von Gewalt ablehnt, nur mit Waffengewalt erreichen. 

Struktur des Textes, Sprache und Stil 
Von Lyck beginnt seine Erzählung mit dem Tag, an dem Emily ihren Plan in die Tat umsetzt. Nur langsam erfolgt für den Leser eine Erklärung für ihre Handlungen. Dies geschieht zunächst über drei Handlungsstränge, die sich alle in irgendeiner Weise im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz überschneiden. Emilys Geschichte bildet hierbei natürlich den Hauptstrang, der auf der einen Seite von den Erzählungen eines Piloten flankiert wird. Dieser ist als Aufklärer tätig und soll eine Fabrik genauer unter die Lupe nehmen. Dabei überfliegt er Auschwitz, welches seine Neugier weckt. Entgegen aller Befehlen überfliegt er das Lager in einer geringen Höhe und macht diverse Bilder, die später von Emily ausgewertet werden müssen. Dabei entdeckt sie auf einer Aufnahme den oben genannten Jungen. Die Geschichte seiner Deportation bildet den dritten Erzählstrang. 

Nachdem die beiden Nebenerzählungen beendet sind und Emily Harris bereits in ihrer Gewalt hat, entspinnt sich ein Gespräch zwischen den beiden. Dies bildet den wichtigsten Teil des Buches, da beide Figuren immer wieder Rückblenden wiedergeben, ihre eigenen Motive erläutern, aber auch in ein Streitgespräch treten, welches viele moralische Aspekte anspricht und das diskutieren von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen mit sich bringt. 

Diese thematische Komplexität wird in einer sehr verständlichen Sprache vermittelt, welche schnell einen angenehmen Lesefluss erzeugt. Begriffe, die aus dem militärischen Bereich stammen, werden zudem umfangreich erläutert und lassen eigentlich keine Fragen zurück. 

Ein häufiges Eintauchen in die Gedankenwelt der Protagonistin führt sogar an einigen Stellen zu einer engen Bindung zwischen dem Leser und der Figur. Man glaubt sie genau zu kennen, und es stellt sich das Gefühl ein, dass man mit ihr verschmilzt und selbst Arthur Harris gegenübersteht. In solchen Momenten wirkt die Informationsflut, die sich über dem Leser ergießt, eher kontraproduktiv. Es steht völlig außer Frage, dass sich der Autor umfangreich mit dem Thema befasst hat. Aber als Leser hat man teilweise den Eindruck, dass er unbedingt alles, was er im Vorfeld durch Recherchen erfahren hat, unbedingt unterbringen möchte. Die Art und Weise wirkt zunächst sehr hölzern, verändert sich aber innerhalb des Werkes positiv. Die Informationsfülle bleibt allerdings bestehen. Und gerade in den Dialogen, in denen Emily und Harris mit Zahlen und Ereignissen um sich werfen, kann dies zu einer Ermüdung des Lesers führen. Nimmt man jedoch etwas Abstand und betrachtet besonders diese Unterhaltung aus einer Art Metaperspektive, erkennt man Bewegungen, die an einen kleinen Tanz erinnern. Harris und Emily wirken wie zwei Teilchen, die trotz einer gewissen Entfernung aufeinander zugehen, sich wieder abstoßen und Eigenbewegungen vollführen. Dieser Reigen wiederholt sich mehrfach auf unterschiedlichen Ebenen. Dabei bleibt Emily stets die Hüterin der Moral, die alles infrage stellt und Veränderungen herbeiführen will. Arthur Harris ist hingegen die Verkörperung von Arroganz und Macht, der Fehler nicht eingestehen will und nur den eigenen Weg als richtig ansieht. Irgendwann trennen sich diese beiden Menschen und der Leser wird recht aufgewühlt und mit einer Menge fremder Gedanken zurückgelassen, die zu einem Überdenken des eigenen Handelns führen. 

Gesamteindruck 
Obwohl ich während des Geschichtsstudiums viele der im Buch vorliegenden Fakten kennengelernt habe, hat es mich erneut zum Nachdenken gebracht. Auch weil ich mich mit der Kernaussage, dass eigentlich kein Mensch von Grund auf böse sei, in anderen Bereichen schon länger beschäftige und eine begründete Übertragung der Theorie auf Personen und Ereignisse der nationalsozialistischen Zeit spannend finde. Dieser Übertrag und das hier vorliegende Ergebnis mögen einigen Menschen gewagt erscheinen. Eine Auseinandersetzung mit ihnen ist aber spannend und sinnvoll. Mit jeder gelesenen Seite spürt man, dass der Autor etwas verändern will und uns nicht nur literarisches Vergnügen bereiten möchte. Er möchte zu einem Umdenken bewegen. Dies im Zusammenhang mit der Informationsfülle führt aber zu einem Anspruch, der aus meiner Sicht eine sehr wichtige Kritik ertragen muss. Der historische Hintergrund wird an vielen Stellen angesprochen und es werden Zahlen, Orte und Personen genannt. Der Autor nennt aber keinen einzigen Beleg! Im Nachwort wird zwar erwähnt, dass man relativ schnell im Internet themenbezogene Informationen findet. Das reicht mir persönlich aber nicht aus. Ich denke, dass das Buch schon durch seine inhaltliche Anlage zwingend durch ein Literatur- und Quellenverzeichnis ergänzt werden muss. Ansonsten wirken viele angesprochene Punkte eher hüllenlos und zweifelhaft. Dies in einer Neuauflage zu ergänzen dürfte aber kein Problem sein.

Davon abgesehen handelte sich aber insgesamt um eine gut konstruierte Geschichte, die spannend ist und viele interessierte Leser verdient hat, die zum Nachdenken, Weiterforschen und Handeln anregt werden.

Wichtiger Hinweis: Demnächst wird es ein Thetaerstück geben, dass auf demselben Stoff basiert.



Books on Demand
ISBN 978-3-8448-1614-3
Paperback
132 Seiten
€ 9,90

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